Farhad Alsilo – Der Tag an dem meine Kindheit endete

Am 3.11.2022 fand im Auricher Kino eine besondere Veranstaltung statt. Der 20-jährige Jungautor Farhad Alsilo sprach vor beinahe 300 Schülerinnen und Schülern über seinen im November 2021 erschienen autobiografischen Roman „Der Tag, an dem meine Kindheit endete“.

Der Schulleiter des Gymnasiums Ulricianum Rüdiger Musolf begrüßte Alsilo und wies darauf hin, dass unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht als selbstverständlich wahrgenommen werden dürfe, sondern es auch notwendig sei, „über den Tellerrand“ zu blicken. Fachlehrer Daniel Künzel, der für die Gesamtorganisation verantwortlich zeichnete, griff diese Aspekte im Folgenden auf, dankte allen an der Veranstaltung unterstützenden Mitwirkenden, vor allem den Mitarbeitern des Auricher Kinos. Zudem würdigte er die Bereitschaft des Stuttgarter Abiturienten, in seinen nur einwöchigen Herbstferien die lange Reise nach Aurich angetreten zu haben.

Farhad Alsilo begann seinen Vortrag, indem er über seine unbeschwerte Kindheit in einem jesidisch geprägten irakischen Dorf berichtete, bevor am 3.8.2014 in einer benachbarten Ortschaft Explosionen zu hören waren. Alsilo und seine Familienangehörigen registrierten diese zunächst ohne besonderen Argwohn, bis kurze Zeit später vier Autos, besetzt mit Kämpfern des „IslamischenStaates“, die Jagd auf sogenannte „Ungläubige“ machten, neben dem Haus der Familie ankamen. Alsilo fasste das, was sich daraufhin abspielte, in nur einem Satz im Voraus zusammen: „In nur einer Stunde wurde mein bisheriges Leben völlig auf den Kopf gestellt.“ Die Zuhörer waren fassungslos darüber, was der junge Mann im Folgenden berichtete. Als damals Elfjähriger entkam er selbst nur knapp dem Erschießungstod, und wurde mit vielen Familienangehörigen in einem engen Raum des Hauses eingesperrt. Die IS-Kämpfer planten, die eingepferchte Gruppe mithilfe von Benzin zu verbrennen. Durch ein Loch in der Wand wurde AlsiloZeuge davon, wie seine männlichen Verwandten auf brutalste Art und Weise abgeschlachtet und teilweise posthum verstümmelt wurden. Seine Schwestern wurden deportiert, um dem „IslamischenStaat“ als Sklavinnen in jedweder Hinsicht zur Verfügung zu stehen. Aufgrund eines kurzfristigen Rückzugs der IS-Kämpfer gelang es der Gruppe, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien und Farhad traf mit seiner Mutter und einigen seiner Geschwister auf seinen sterbenden Vater, der wenige Minuten später seinen schweren Schussverletzungen erlag. Das war das letzte Mal, dass Farhad und seine Familienangehörigen ihn sahen. Die überlebenden Familienmitglieder begaben sich auf eine waghalsige und entbehrungsreiche Flucht in Richtung eines Gebirges, die drei Kinder überlebten die eiskalten Nächte, indem sie sich unter den Rock der Mutter verkrochen und auch dort schliefen. Nach dem Aufenthalt in mehreren Flüchtlingsunterkünften kam Farhad 2015 im Rahmen des baden-württembergischen „Sonder-Flüchtlingskontingents“ nach einigen seiner Geschwister und seiner Mutter nach Deutschland. Weder habe er bis dahin etwas über Deutschland gewusst und erst recht nicht die deutsche Sprache beherrscht. Die Ankunft in Stuttgart habe er wie die Ankunft in einer komplett neuen Welt empfunden, die sich ihm erst nach und nach offenbarte. Trotzdem habe er die deutsche Sprache in sehr schneller Zeit erlernt, „Bildung ist das Wichtigste“, betont Alsilo. Nach dem Besuch einer Integrationsklasse wechselte er auf die Realschule, und schloss als Bester seines Jahrgangs mit einem Gesamtschnitt von 1,3 ab. Er bereitet sich momentan als Abiturient eines Technischen Gymnasiums auf die Allgemeine Hochschulreife vor. Als technischinteressierter Schüler könne er sich eine Zukunft als Ingenieur vorstellen, ebenso möchte er seiner Leidenschaft nachgehen, als „Speaker“ vor Gruppen zu sprechen. In jedem Fall wolle er einen guten Beruf erlernen und gleichzeitig Verantwortung für seine Familie übernehmen, Versprechen, die er einst seinem Vater gab. Im Anschluss an seinen Vortrag beantwortete der Referent zahlreiche Fragen der zuhörenden Schülerinnen und Schülern. Alsilo betonte dabei vor allem die Vorzüge des deutschen Schulsystems: „Wenn ich schon an der Schule bin, warum sollte ich meine Zeit dort nicht nutzen, um mich zu beteiligen? Ich bin dankbar, dass es einen Lehrer gibt, der alles erklärt, wenn man etwas nicht verstanden hat.“ Des Weiteren schätze er den deutschen Rechtsstaat und die Gewissheit,den Alltag ohne permanente Angstgefühle bestreiten zu können. Er selbst habe auch in Deutschland Intoleranz und Rassismus erfahren, gleichzeitig aber wenig Verständnis für integrationsunwillige Migranten. Die Zuhörer beendeten den Vortrag mit Standing Ovations, Musolf und Künzel wünschten Farhad alles erdenklich Gute für seine Zukunft, wofür sich dieser herzlich bedankte.

Text und Fotos: Daniel Künzel

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